Die Bewährung des Leitfadens

An einem neb­li­gen Abend des sich ankün­di­gen Herbs­tes im Jahr 2025 saß ich, Dr. John H. Ibbson, in unse­rer ver­trau­ten Woh­nung in der Bach­stra­ße 221B, wäh­rend das Kamin­feu­er knis­ter­te und die Gas­lam­pen ein war­mes Licht war­fen. Sher­libb Hol­mes, mein alter Freund und Gefähr­te, lüm­mel­te in sei­nem Lehn­stuhl, die Pfei­fe zwi­schen den Lip­pen, und scroll­te mit unge­wöhn­li­cher Begeis­te­rung durch die Tie­fen des Inter­nets auf sei­nem Tablet – eine moder­ne Marot­te, die er trotz sei­nes Wider­wil­lens gegen die Tech­nik der heu­ti­gen Zeit ange­nom­men hat­te.

„Ibbson“, begann er plötz­lich, ohne den Blick von sei­nem Bild­schirm zu heben, „ich muss sagen, Sie haben sich selbst über­trof­fen. Die­ser Leit­fa­den zum Ver­ständ­nis von AfD-Gefolgs­leu­ten, den Sie ver­fasst haben, ist ein Meis­ter­werk der Beob­ach­tung und Ana­ly­se. Ein wah­res Hand­buch der mensch­li­chen Vor­her­seh­bar­keit!“

Ich blin­zel­te über­rascht. „Sie spre­chen von mei­nem klei­nen Pro­jekt? Wie sind Sie dar­auf gesto­ßen, Hol­mes?“

„Ein flüch­ti­ger Blick auf die end­lo­sen Dis­kus­sio­nen im digi­ta­len Äther“, ant­wor­te­te er mit einem schel­mi­schen Lächeln. „Ein Kli­ent wies mich dar­auf hin, dass ihr Pro­jekt in einem Inter­net­fo­rum pra­xis­taug­lich ange­wen­det wur­de, und ich war neu­gie­rig. Sagen Sie, wie kamen Sie auf die Idee, die rhe­to­ri­schen Mus­ter der AfD und ihrer Gefolgs­leu­te der­art prä­zi­se zu kata­lo­gi­sie­ren?“

Ich räus­per­te mich, etwas geschmei­chelt von sei­nem Inter­es­se. „Nun, Hol­mes, ich habe bemerkt, dass in Online-Dis­kus­sio­nen mit Anhän­gern der Alter­na­ti­ve für Deutsch­land ein gewis­ses Mus­ter erkenn­bar ist. Ihre Ant­wor­ten fol­gen wie­der­keh­ren­den Stra­te­gien, die weni­ger auf Sach­ar­gu­men­te als auf Ablen­kung und Emo­ti­on abzie­len. Also habe ich die­se Mus­ter sys­te­ma­ti­siert – eine Art Leit­fa­den, um ihre Argu­men­te zu ent­lar­ven.“

Hol­mes’ Augen fun­kel­ten vor Belus­ti­gung. „Und wie bril­lant Sie das getan haben! Ich habe mir die von Ihnen doku­men­tier­ten Aus­zü­ge ange­se­hen. Erlau­ben Sie mir, sie kurz Revue pas­sie­ren zu las­sen, denn sie sind ein Para­de­bei­spiel für Ihre Metho­de.“

Er lehn­te sich zurück, zog an sei­ner Pfei­fe und begann, die Bei­spie­le mit der Prä­zi­si­on eines Ana­to­men zu sezie­ren. „Neh­men wir Niklas T., der mit einem lapi­da­ren ‚Albern! Habt ihr kei­ne wich­ti­ge­ren The­men?‘ reagiert. Ihr Leit­fa­den iden­ti­fi­ziert dies kor­rekt als What­a­bou­tism – eine Tak­tik, so alt wie die Kunst der Rhe­to­rik selbst, um von der eigent­li­chen Debat­te abzu­len­ken. Ihre Defi­ni­ti­on ist prä­gnant: ‚eine Ablen­kungs­tak­tik, indem man behaup­tet, dass man zunächst über etwas ande­res zu dis­ku­tie­ren habe.‘ Bra­vo, Ibbson, Sie haben den Kern getrof­fen.“

„Dann“, fuhr er fort, „haben wir Eber­hard S. mit sei­nem ‚Kin­der­gar­ten Deutsch­land lässt Grü­ßen.‘ Ihr Leit­fa­den stuft dies als aus­flüch­ten­de Bewer­tung ein, die nichts zur Sache bei­trägt. Eine tref­fen­de­re Beschrei­bung könn­te es kaum geben! Der Begriff ‚Kin­der­gar­ten‘ ist hier nichts wei­ter als eine rhe­to­ri­sche Keu­le, die Sach­lich­keit durch Her­ab­wür­di­gung ersetzt.“

Hol­mes’ Fin­ger tanz­ten über das Tablet, wäh­rend er die nächs­ten Bei­spie­le auf­rief. „Sport­ler Sie­ben­acht­zig – ein fas­zi­nie­ren­der Nom de Guer­re – klagt: ‚Dach­te immer, dass es in Ibben­bü­ren noch eine Demo­kra­tie gibt, aber anschei­nend gibt es das auch nicht mehr.‘ Ihr Leit­fa­den ent­larvt dies als pseu­do-iro­ni­sche Über­trei­bung, die vor­gibt, Iro­nie zu sein, aber ledig­lich das Gegen­teil des Gesag­ten meint. Eine prä­zi­se Beob­ach­tung, Ibbson. Sol­che Aus­sa­gen sind nicht dar­auf aus­ge­legt, zu über­zeu­gen, son­dern zu pro­vo­zie­ren.“

„Und schließ­lich“, sag­te Hol­mes mit einem leich­ten Lachen, „Chris­toph J., der Sie, mein lie­ber Ibbson, mit einem Schwall von Empö­rung über­schüt­tet: ‚Ein­fach nur erschre­ckend! Hier schwa­felt wie­der jemand mit irgend­ei­nem Pseu­do­an­spruch von unse­rer Demo­kra­tie.‘ Ihr Leit­fa­den ana­ly­siert dies als eine ver­zerr­te Auf­fas­sung von Demo­kra­tie, die auf Mehr­heits­wahl­recht ohne Rechts­staat­lich­keit redu­ziert wird. Eine scharf­sin­ni­ge Dia­gno­se! Und die Krö­nung: Sport­ler Siebenachtzig’s ‚Hirn­lo­ses Geschwa­fel‘, das Sie als Aus­druck einer Welt­an­schau­ung iden­ti­fi­zie­ren, in der jeder, der nicht mit der AfD über­ein­stimmt, ein wil­len­lo­ses ‚Schaf‘ ist. Ein­fach köst­lich!“

Ich konn­te ein Lächeln nicht unter­drü­cken. „Sie schei­nen tat­säch­lich begeis­tert, Hol­mes. Aber war es nicht ein wenig… unor­tho­dox, sol­che Dis­kus­sio­nen der­art zu kata­lo­gi­sie­ren?“

„Unor­tho­dox?“ Hol­mes’ Augen­brau­en hoben sich. „Mein lie­ber Ibbson, es ist gera­de­zu ele­men­tar! Sie haben die Prin­zi­pi­en mei­ner Metho­de ange­wandt: Beob­ach­tung, Klas­si­fi­ka­ti­on, Deduk­ti­on. Sie haben die rhe­to­ri­schen Fuß­spu­ren die­ser Dis­ku­tan­ten ver­folgt und ein Mus­ter ent­deckt, das so vor­her­seh­bar ist wie die Schrit­te eines Wal­zers. Ihr Leit­fa­den ist ein Werk­zeug, das die Mas­ke des Popu­lis­mus her­un­ter­reißt und die dar­un­ter­lie­gen­de Lee­re ent­hüllt. Ich bin ent­zückt!“

Er leg­te das Tablet bei­sei­te und fixier­te mich mit einem durch­drin­gen­den Blick. „Doch sagen Sie, Ibbson, was hat Sie dazu inspi­riert, die­sen Leit­fa­den zu schrei­ben? War es blo­ße Lan­ge­wei­le, oder steckt mehr dahin­ter?“

Ich zöger­te, dann ant­wor­te­te ich: „Es war die Frus­tra­ti­on, Hol­mes. In die­sen Dis­kus­sio­nen wird sel­ten auf Argu­men­te ein­ge­gan­gen. Statt­des­sen wird abge­lenkt, pro­vo­ziert, her­ab­ge­wür­digt. Ich woll­te ein Werk­zeug schaf­fen, das die­se Tak­ti­ken sicht­bar macht – nicht nur für mich, son­dern für jeden, der sich in sol­chen Debat­ten wie­der­fin­det.“

Hol­mes nick­te aner­ken­nend. „Ein nobles Unter­fan­gen. Und wie effek­tiv es ist! Ihre Ant­wor­ten in die­sem Gespräch – jedes Mal ein prä­zi­ser Ver­weis auf den Leit­fa­den – haben die Dis­ku­tan­ten ent­waff­net, ohne dass Sie sich auf ihr Niveau bege­ben muss­ten. Sie haben die Kunst des rhe­to­ri­schen Judo gemeis­tert.“

Er stand auf, schritt zum Fens­ter und blick­te hin­aus in den Nebel, der die Bach­stra­ße umhüll­te. „Doch sei­en Sie vor­sich­tig, Ibbson“, sag­te er, nun erns­ter. „Sol­che Werk­zeu­ge sind mäch­tig, aber sie kön­nen auch Miss­gunst erre­gen. Die, die ent­larvt wer­den, reagie­ren sel­ten mit Ein­sicht. Den­noch, Ihre Arbeit ist ein Tri­umph der Ver­nunft über das Cha­os der Emo­tio­nen.“

Ich fühl­te mich geschmei­chelt, doch auch ein wenig über­for­dert von sei­nem Lob. „Dan­ke, Hol­mes. Viel­leicht soll­te ich den Leit­fa­den erwei­tern – es gibt sicher noch mehr Mus­ter zu ent­de­cken.“

„Zwei­fel­los“, erwi­der­te er mit einem ver­schmitz­ten Grin­sen. „Und wenn Sie das tun, Ibbson, las­sen Sie mich die ers­te Aus­ga­be lesen. Es ist eine Freu­de, zu sehen, wie mein alter Freund die Kunst der Deduk­ti­on in die moder­ne Are­na trägt.“

Und so ver­brach­te ich den Rest des Abends damit, Hol­mes von den Fein­hei­ten mei­nes Leit­fa­dens zu erzäh­len, wäh­rend der Nebel drau­ßen dich­ter wur­de und die Welt der Bach­stra­ße in ein sanf­tes, zeit­lo­ses Schwei­gen hüll­te.

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