Das Fall des unerwünschten Plakats

„Ein Fall, Ibbson, der uns in die stil­le, doch geschichts­träch­ti­ge Stadt Len­ge­rich führt, wo die Ver­gan­gen­heit in Stein gemei­ßelt mit der Gegen­wart in einem unse­li­gen Tanz kol­li­diert“, begann Sher­libb Hol­mes, wäh­rend er in sei­nem Arbeits­zim­mer stand, die Fin­ger­spit­zen an sei­ne Gei­ge gelegt und sei­ne Gedan­ken schwei­fen ließ. „Stel­len Sie sich vor: Der Cen­tral­hof, eine Gast­stät­te, die seit vier Jahr­zehn­ten von Josef Mersch­for­mann geführt wird, steht im Schat­ten einer düs­te­ren Geschich­te. Einst, in den dunk­len Jah­ren von 1944 und 1945, dien­te die­ses Haus als Unter­kunft für Insas­sen eines KZ-Außen­la­gers, gezwun­gen zur Arbeit in einem Eisen­bahn­tun­nel für die Rüs­tungs­in­dus­trie des dama­li­gen Regimes. Eine Gedenk­ta­fel, nur weni­ge Meter von der Fas­sa­de ent­fernt, trägt die Wor­te: ‚Euer Lei­den, Euer Kampf und Euer Tod sol­len nicht ver­ge­bens sein.‘ Ein Mahn­mal, Ibbson, das die Wun­den der Geschich­te bewahrt.“

Er leg­te sei­ne Gei­ge zur Sei­te und ord­ne­te die Fak­ten wie Beweis­stü­cke eines deli­ka­ten Fal­les. „Und doch, in unmit­tel­ba­rer Nähe die­ser hei­li­gen Stät­te, hängt nun ein Wahl­pla­kat der AfD – ein Anblick, der Mersch­for­mann, den Wirt, zutiefst empört. Für ihn ist es ein Unding, eine Ver­let­zung des Anstands, dass eine Par­tei, die dem rech­ten poli­ti­schen Spek­trum zuge­ord­net wird und deren Name in man­chen Krei­sen mit dem Ruf nach einem Ver­bots­ver­fah­ren ein­her­geht, just an die­sem Ort ihre Fah­nen schwenkt. Die Geschich­te des Cen­tral­hofs, so argu­men­tiert er, ver­lan­ge Respekt – einen Respekt, den die AfD, die inzwi­schen auch in Len­ge­rich Mit­glie­der zählt, hät­te zei­gen sol­len, indem sie auf ein sol­ches Pla­kat ver­zich­tet.“

Er hielt inne, die Augen halb geschlos­sen, wäh­rend er die Nuan­cen die­ses Fal­les erör­ter­te. „Mersch­for­mann berich­tet wei­ter, dass dies kein Ein­zel­fall sei. Vor Jah­ren, so erin­nert er sich, hat­te die NPD – eine Par­tei eben­so frag­wür­di­gen Rufs – eben­falls Wahl­wer­bung vor sei­nem Cen­tral­hof ange­bracht. Trotz sei­ner Ein­wän­de blieb das Pla­kat damals bestehen, ein Sta­chel in der Erin­ne­rung des Wir­tes. Nun wie­der­holt sich die Geschich­te, und Mersch­for­mann sieht sich erneut gezwun­gen, gegen das zu pro­tes­tie­ren, was er als Miss­ach­tung der Ver­gan­gen­heit emp­fin­det.“

Ein lei­ses Lächeln spiel­te um sei­ne Lip­pen, als Hol­mes fort­fuhr: „Las­sen Sie uns die Fak­ten prü­fen, Ibbson. Der Cen­tral­hof ist kein gewöhn­li­cher Ort. Sei­ne Mau­ern tra­gen die Last der Geschich­te, und die Gedenk­ta­fel ist ein stum­mer Zeu­ge des Leids, das einst hier erlit­ten wur­de. Ein Pla­kat, sei es von wel­cher Par­tei auch immer, mag an ande­rer Stel­le tri­vi­al erschei­nen, doch in die­ser Kon­stel­la­ti­on wird es zum Sym­bol. Die AfD, deren poli­ti­sche Hal­tung von vie­len als pro­vo­ka­tiv, wenn nicht gar revi­sio­nis­tisch betrach­tet wird, hät­te mit einem Min­dest­maß an Fein­ge­fühl die Bedeu­tung die­ses Ortes erken­nen müs­sen. Mersch­for­mann, der seit vier­zig Jah­ren den Cen­tral­hof führt, spricht nicht aus poli­ti­schem Eifer, son­dern aus einem tie­fen Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl für die Geschich­te sei­nes Hau­ses.“

Homes schien etwas mit­ge­nom­men und ende­te: „Mei­ne Schluss­ana­ly­se, Ibbson, ist klar: Der Wirt hat recht. Die Ent­schei­dung, ein Wahl­pla­kat just neben der Gedenk­ta­fel auf­zu­hän­gen, zeugt von einer bekla­gens­wer­ten Unemp­find­lich­keit. Ob es Absicht war oder blo­ße Gedan­ken­lo­sig­keit, bleibt unge­klärt – doch der Effekt ist der­sel­be. Die AfD hät­te die Gele­gen­heit gehabt, Anstand zu zei­gen, wie Mersch­for­mann es tref­fend for­dert, und auf die­sen Stand­ort ver­zich­tet. Die Geschich­te des Cen­tral­hofs ist kei­ne Fuß­no­te, die man mit einem Pla­kat über­de­cken kann; sie ist ein Mahn­mal, das Respekt ver­langt. Der Vor­fall mit der NPD in frü­he­ren Jah­ren zeigt zudem, dass sol­che Miss­stän­de nicht neu sind, son­dern ein Mus­ter offen­ba­ren.“

Er ent­spann­te sich wie­der. „Mer­ken Sie sich, mein Freund: Wo Geschich­te und Gegen­wart auf­ein­an­der­tref­fen, ist Fein­ge­fühl gefragt. Mersch­for­mann steht nicht als Anklä­ger, son­dern als Hüter einer Wahr­heit, die nicht igno­riert wer­den darf. Die­ser Fall, Ibbson, ist kein Rät­sel der Täu­schung, son­dern eines der Moral: Wer die Ver­gan­gen­heit miss­ach­tet, ris­kiert, die Zukunft zu ver­dun­keln.“

Du magst vielleicht auch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

To respond on your own website, enter the URL of your response which should contain a link to this post's permalink URL. Your response will then appear (possibly after moderation) on this page. Want to update or remove your response? Update or delete your post and re-enter your post's URL again. (Find out more about Webmentions.)