Die Schrankkoffer

Es war ein küh­ler Som­mer­mor­gen im Jahr 2025, als Sher­libb Hol­mes und ich, Dr. John H. Ibbson, in einem Abteil der Deut­schen Bahn saßen, auf dem Weg von Ber­lin nach West­fa­len. Der Zug rat­ter­te gleich­mä­ßig durch die Land­schaft, und Hol­mes, die Pfei­fe im Mund­win­kel, blät­ter­te in einer Aus­ga­be des Fahr­gast­re­gle­ments, das er sich aus purem Inter­es­se am Bahn­hof besorgt hat­te. Ich hin­ge­gen ver­tieft in die Mor­gen­zei­tung, als plötz­lich ein lau­tes, ver­är­ger­tes Mur­meln aus dem Gang zu uns drang.

„Hören Sie das, Ibbson?“, frag­te Hol­mes, ohne den Blick von den fei­nen Druck­zei­len des Regle­ments zu heben. „Ein Sturm braut sich zusam­men, und ich wet­te, es ist einer jener tri­via­len Strei­tig­kei­ten, die Men­schen unnö­tig auf­re­gen.“

Ich leg­te die Zei­tung bei­sei­te und lausch­te. Ein Herr mitt­le­ren Alters, mit hoch­ro­tem Kopf und einem Aus­druck, der an einen gereiz­ten Dachs erin­ner­te, stand im Gang und lamen­tier­te laut­stark. „War­um brau­chen Frau­en für ihren Schrank­kof­fer im Zug nix bezah­len?“, rief er, die Hän­de in die Hüf­ten gestemmt. „Wenn ich mein Rad mit­neh­men will, muss ich aber bezah­len! Habe ich heu­te wie­der erlebt. Unzäh­li­ge Damen auf Kegel­tour mit einem Schrank­kof­fer für drei Tage. Und die haben von nix Ahnung, weil sie ja auch nur ein Mal im Jahr mit dem Zug fah­ren.“

Hol­mes’ Augen blitz­ten auf, wie sie es immer taten, wenn er eine Gele­gen­heit wit­ter­te, das mensch­li­che Ver­hal­ten zu sezie­ren. „Kom­men Sie, Ibbson“, sag­te er und erhob sich. „Las­sen wir uns die­se klei­ne Sze­ne nicht ent­ge­hen.“

Wir tra­ten in den Gang, wo der ver­mu­te­te Herr – ein Poli­ti­ker der AfD, wie wir spä­ter erfuh­ren, mit einer Vor­lie­be für pro­vo­kan­te Äuße­run­gen – wei­ter wet­ter­te. Eine Grup­pe von Frau­en, ver­mut­lich die besag­ten „Damen auf Kegel­tour“, saß in einem Abteil gegen­über, ihre Kof­fer ordent­lich — ohne ein Hin­der­nis dar­zu­stel­len — ver­staut. Sie war­fen dem Mann ver­stoh­le­ne Bli­cke zu, eini­ge mit Belus­ti­gung, ande­re mit lei­sem Ärger.

„Guten Tag, mein Herr“, begann Hol­mes mit sei­ner übli­chen Höf­lich­keit, die jedoch stets einen Hauch von Schär­fe ver­barg. „Darf ich fra­gen, was genau Ihr Miss­fal­len erregt? Die Anwe­sen­heit von Gepäck oder die Tat­sa­che, dass es von Damen trans­por­tiert wird?“

Der Mann, sicht­lich über­rascht von der direk­ten Anspra­che, schnaub­te. „Die Kof­fer! Die­se rie­si­gen Din­ger, die den hal­ben Gang blo­ckie­ren! Ich muss­te für mein Fahr­rad einen Auf­preis zah­len, aber die­se Schrank­kof­fer rei­sen umsonst. Das ist doch unge­recht!“

Hol­mes zog eine Augen­braue hoch und warf einen Blick auf die Kof­fer im Abteil. „Inter­es­sant“, mur­mel­te er. „Las­sen Sie uns die Fak­ten betrach­ten. Ibbson, haben Sie das Regle­ment der Deut­schen Bahn zur Hand?“

Ich reich­te ihm das Heft, das er zuvor stu­diert hat­te. Hol­mes schlug es auf und las mit lei­sem, zufrie­de­nem Lächeln vor: „Nach den Bestim­mun­gen der Deut­schen Bahn ist Hand­ge­päck, ein­schließ­lich Kof­fer belie­bi­ger Grö­ße, kos­ten­frei, solan­ge es im dafür vor­ge­se­he­nen Bereich ver­staut wird und ande­re Fahr­gäs­te nicht behin­dert. Fahr­rä­der hin­ge­gen erfor­dern eine geson­der­te Reser­vie­rung und Gebühr, da sie spe­zi­el­le Stell­plät­ze bean­spru­chen.“ Er klapp­te das Heft zu. „Es scheint, mein Herr, dass die Unge­rech­tig­keit, die Sie emp­fin­den, ledig­lich eine Fra­ge der Kate­go­ri­sie­rung ist. Kof­fer sind Hand­ge­päck, Fahr­rä­der sind Trans­port­gü­ter.“

Der Mann blin­zel­te, sicht­lich unzu­frie­den mit der Logik. „Aber die­se Kof­fer sind rie­sig! Und die­se Frau­en“, er senk­te die Stim­me, als woll­te er ver­trau­lich wir­ken, „die haben doch kei­ne Ahnung, wie man reist. Ein­mal im Jahr stei­gen die in den Zug, und dann schlep­pen sie so was mit!“

Hol­mes’ Lächeln wur­de schär­fer. „Eine fas­zi­nie­ren­de Beob­ach­tung. Sagen Sie, wie oft rei­sen Sie selbst mit der Bahn, dass Sie die Gepäck­ge­wohn­hei­ten ande­rer so genau beur­tei­len kön­nen?“

Der Mann stutz­te, mur­mel­te etwas Unver­ständ­li­ches und wand­te sich ab. Hol­mes wand­te sich an mich. „Ibbson, was fällt Ihnen an die­ser Sze­ne auf?“

„Nun“, begann ich vor­sich­tig, „der Herr scheint weni­ger über die Kof­fer ver­är­gert als über die Per­so­nen, die sie tra­gen. Sei­ne Wort­wahl – ‚Damen auf Kegel­tour‘, ‚von nix Ahnung‘ – deu­tet auf eine gewis­se Her­ab­las­sung hin, viel­leicht sogar auf ein Bedürf­nis, Auf­merk­sam­keit zu erre­gen.“

„Prä­zi­se, Ibbson!“, rief Hol­mes. „Wir haben es hier mit einem klas­si­schen Fall von selek­ti­ver Wahr­neh­mung zu tun. Der Herr igno­riert die Regeln, die für alle gel­ten, und fokus­siert sich statt­des­sen auf eine Grup­pe, die er aus irgend­ei­nem Grund als stö­rend emp­fin­det. Sei­ne Äuße­rung ist weni­ger eine Beschwer­de über Gepäck als viel­mehr ein Aus­druck von Res­sen­ti­ment, ver­packt in eine ver­meint­lich ratio­na­le Kri­tik.“

„Und was ist mit dem Vor­wurf, dass die­se Frau­en ‚nur ein­mal im Jahr‘ rei­sen?“, frag­te ich.

Hol­mes schmun­zel­te. „Eine blo­ße Ver­mu­tung, Ibbson. Ich habe die Damen beob­ach­tet. Ihre Kof­fer sind ordent­lich gepackt, die Eti­ket­ten deu­ten auf geüb­te Rei­sen­de hin, und ihre Unter­hal­tung im Abteil war durch­aus leb­haft, aber nicht stö­rend.“

Wir kehr­ten in unser Abteil zurück, wäh­rend der Mann im Gang wei­ter vor sich hin mur­mel­te. Hol­mes lehn­te sich zurück und ließ sei­nen Blick über die vor­bei­rau­schen­de Fel­der schwel­gen. „Ein klei­ner Fall, Ibbson, aber lehr­reich. Man­che Men­schen sehen in jedem Kof­fer ein Ver­ge­hen, wenn sie nur die rich­ti­ge Ziel­schei­be fin­den. Die Deut­sche Bahn jedoch“, er hielt das Regle­ment hoch, „ist bemer­kens­wert unbe­stech­lich in ihrer Logik.“

Und so fuh­ren wir wei­ter, wäh­rend der Zug durch die herbst­li­che Land­schaft glitt und Hol­mes sich wie­der sei­ner Lek­tü­re wid­me­te, zufrie­den mit der Lösung eines wei­te­ren Rät­sels – wenn auch eines von gerin­ger Bedeu­tung.

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