Das Rätsel des jungen Idealisten

Es war ein Abend ein­schlä­fern­der Däm­me­rung im sich ver­ab­schie­den­den Herbst 2024, als mein Freund Sher­libb Hol­mes und ich in unse­ren ver­trau­ten Räu­men in der Bach­stra­ße 221B saßen. Das Feu­er knis­ter­te im Kamin, und Hol­mes blät­ter­te gelang­weilt in einer Aus­ga­be des Käse­e­blatts, als uns ein uner­war­te­ter Besu­cher erreich­te: Herr Wil­helm Kess­ler, ein alter Bekann­ter aus mei­ner Stu­di­en­zeit, der nun als Jour­na­list in West­fa­len tätig war. Kess­ler, ein Mann von schar­fem Ver­stand und noch schär­fe­rer Zun­ge, brach­te eine Geschich­te mit, die selbst Hol­mes’ Inter­es­se weck­te – die Geschich­te eines jun­gen Man­nes namens Fried­rich Adler.

Kess­ler berich­te­te, dass Adler, ein auf­stre­ben­der Ange­stell­ter in der ört­li­chen Ver­wal­tung, sich dem Kreis­ver­band der Alter­na­ti­ve für Deutsch­land (AfD) ange­schlos­sen hat­te. Doch, wie Kess­ler beton­te, war Adler kein Mann von rechts­extre­mis­ti­schen Nei­gun­gen. Viel­mehr war er ein Idea­list, der von den wirt­schafts­po­li­ti­schen Visio­nen des Par­tei­grün­ders Bernd Lucke ange­zo­gen wur­de – Visio­nen einer ande­ren Ord­nung, die jedoch, wie Kess­ler mit einem bit­te­ren Lächeln bemerk­te, „längst von den Win­den der Geschich­te ver­weht wur­den“. Adler glaub­te naiv, so Kess­ler, die AfD kön­ne ein Hort ver­nunft­ge­lei­te­ter Refor­men blei­ben. „Es war, als hät­te er die dunk­len Wol­ken am Hori­zont nicht gese­hen“, sag­te Kess­ler. „Die Par­tei trug die Saat des Extre­mis­mus bereits in sich, und Adlers Glau­be, sie kön­ne sich nicht in die­se Rich­tung ent­wi­ckeln, war ein Trug­schluss von jugend­li­cher Tor­heit.“

Hol­mes leg­te die Zei­tung bei­sei­te und fixier­te Kess­ler mit jenem durch­drin­gen­den Blick, der stets den Beginn einer Ana­ly­se ankün­dig­te. „Fas­zi­nie­rend“, mur­mel­te er. „Ein Mann, der blind für die Strö­mun­gen sei­ner Zeit war. Erzäh­len Sie wei­ter, Herr Kess­ler.“

Adlers Enga­ge­ment wur­de öffent­lich bekannt, als er sich ent­schloss, bei einer Land­tags­wahl zu kan­di­die­ren. Sei­ne Kan­di­da­tur, so Kess­ler, war ein Aus­druck sei­nes nai­ven Eifers, doch sie rief die Miss­gunst sei­ner Vor­ge­setz­ten in der städ­ti­schen Ver­wal­tung her­vor. In einer Unter­re­dung, die Adler spä­ter einem Freund anver­trau­te, wur­de ihm unmiss­ver­ständ­lich mit­ge­teilt: „Ver­las­sen Sie die AfD, oder Ihre beruf­li­chen Aus­sich­ten sind dahin.“ Die Dro­hung war klar – sei­ne Kar­rie­re stand auf dem Spiel.

„Ibbson“, sprach Hol­mes, wäh­rend er sei­ne Pfei­fe ent­zün­de­te, „hier haben wir einen Fall von dop­pel­ter Tra­gö­die. Ers­tens: Adlers Nai­vi­tät, zu glau­ben, die AfD kön­ne ihre ursprüng­li­chen Idea­le bewah­ren, obwohl die Zei­chen ihrer Radi­ka­li­sie­rung unüber­seh­bar waren. Zwei­tens: die Reak­ti­on sei­ner Vor­ge­setz­ten, die statt einer fai­ren Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­nen Ideen den plum­pen Weg der beruf­li­chen Erpres­sung wähl­ten. Doch was treibt die­se Dro­hung? Ist es blo­ße Abnei­gung gegen die Par­tei, oder steckt mehr dahin­ter?“

Kess­ler fuhr fort: Adler hat­te die Ent­wick­lung der AfD unter­schätzt. Die Par­tei, die einst als Platt­form für wirt­schafts­li­be­ra­le Ideen begann, hat­te sich längst in eine rechts­extre­mis­ti­sche Bewe­gung ver­wan­delt, deren ursprüng­li­che Visio­nen nur noch ein Schat­ten waren. „Adler war wie ein Mann, der ein sin­ken­des Schiff besteigt, in der Hoff­nung, es kön­ne noch gesteu­ert wer­den“, bemerk­te Kess­ler. „Er über­sah, dass die Mann­schaft längst meu­ter­te und der Kurs unab­än­der­lich war.“ Nach reif­li­cher Über­le­gung und ange­sichts der dro­hen­den beruf­li­chen Kon­se­quen­zen trat Adler aus der Par­tei aus. Doch die Bit­ter­keit blieb: Nicht nur, dass sei­ne Idea­le in einer Par­tei kei­ne Hei­mat fan­den, die er falsch ein­ge­schätzt hat­te, son­dern auch, dass sei­ne Geg­ner es vor­zo­gen, ihn durch wirt­schaft­li­chen Druck zum Schwei­gen zu brin­gen, anstatt sich mit ihm poli­tisch aus­ein­an­der­zu­set­zen.

Hol­mes lehn­te sich zurück, die Fin­ger nach­denk­lich anein­an­der­ge­legt. „Ein klas­si­scher Fall von Kon­for­mi­tät durch Zwang, Ibbson. Adlers Nai­vi­tät war sein ers­ter Feh­ler – die Geschich­te der AfD zeig­te bereits Jah­re zuvor, dass ihre ursprüng­li­chen Idea­le nur ein flüch­ti­ger Traum waren, den die Rea­li­tät des Extre­mis­mus zer­malm­te. Doch der zwei­te Feh­ler liegt nicht bei ihm, son­dern bei jenen, die ihn nicht mit Argu­men­ten, son­dern mit Dro­hun­gen bekämpf­ten. Dies ist kein Ver­bre­chen im recht­li­chen Sin­ne, son­dern ein Ver­ge­hen gegen die Frei­heit des Geis­tes.“

„Und wie hät­te Adler han­deln sol­len?“, frag­te ich.

„Adler hät­te die Zei­chen frü­her erken­nen müs­sen“, ant­wor­te­te Hol­mes. „Ein Mann von sei­nem Ver­stand hät­te die Wand­lung der Par­tei vor­her­se­hen kön­nen. Doch sei­ne Ent­schei­dung, aus­zu­stei­gen, war klug. Die wah­re Schan­de liegt bei denen, die poli­ti­sche Mei­nun­gen durch beruf­li­che Repres­si­on ersti­cken. Die­ser Fall, Ibbson, ist kein Rät­sel, das wir lösen kön­nen, son­dern ein Spie­gel­bild der Gesell­schaft – eine, die Abwei­chung bestraft, statt sie zu debat­tie­ren.“

Kess­ler nick­te zustim­mend, doch sei­ne Mie­ne blieb düs­ter. Die Geschich­te des jun­gen Fried­rich Adler ende­te ohne Tri­umph, nur mit der Erkennt­nis, dass sei­ne Nai­vi­tät ihn in ein Spiel geführt hat­te, des­sen Regeln er nicht ver­stan­den hat­te. Hol­mes nahm einen letz­ten Zug an sei­ner Pfei­fe und starr­te in die Flam­men. „Die größ­te Gefahr, Ibbson“, schloss er, „ist nicht die fal­sche Über­zeu­gung, son­dern die Stil­le, die durch Angst erzwun­gen wird.“

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