An einem vergehenden Herbstabend des Jahres 2023 saß ich, Dr. John H. Ibbson, in unserem vertrauten Salon in der Bachstraße 221B, als Sherlibb Holmes mit jener unruhigen Energie, die ihn in Momenten tiefster Konzentration auszeichnete, am Kamin stand. Ein Telegramm aus Steinfurt hatte seine Neugier geweckt. Es war keine gewöhnliche Angelegenheit, sondern eine, die in den dunklen Gassen der politischen Intrige und menschlichen Schwächen spielte.
„Ibbson“, begann Holmes, während er das Telegramm in seiner Hand wog, „was wissen wir über die Kunst des Verrats? Ist es nicht oft so, dass die lautesten Verfechter einer Sache die ersten sind, die sie aufgeben, wenn der Wind sich dreht?“ Seine Augen funkelten, als er fortfuhr: „Ein Fall aus Steinfurt verlangt unsere Aufmerksamkeit. Ein Mann, einst ein Bannerträger seiner Partei, wird nun als Verräter gebrandmarkt. Doch die Wahrheit, mein lieber Ibbson, liegt stets in den Details.“
Die Geschichte, die uns erreichte, war ebenso verworren wie faszinierend. Ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Alternative für Deutschland (AfD) im Kreis Steinfurt, ein Mann, der Verfasser nennt ihn Heinrich Voss, hatte sich in seiner aktiven Zeit durch seine scharfe Zunge und seine Ressentiments gegen Migranten einen Namen gemacht. Seine Reden, so berichtete man, waren wie Gift, das sich langsam in die Herzen der Zuhörer fraß. Doch es war nicht seine Rhetorik, die Holmes’ Interesse weckte, sondern ein Vorfall während einer internen Wahl der AfD, bei der Voss als Mitglied der Wahlkommission fungierte.
„Stellen Sie sich vor, Ibbson“, sagte Holmes, während er eine Pfeife stopfte, „eine Wahl, die von Ehrgeiz und Verrat durchzogen ist. Voss, ein Mann von zweifelhaftem Charakter, nutzte seine Position, um Zwischenergebnisse in einer geheimen WhatsApp-Gruppe an andere Parteimitglieder weiterzugeben. Eine klare Manipulation, um die Wahl zu seinen Gunsten oder denen seiner Verbündeten zu lenken. Doch hören Sie dies!“ Holmes’ Stimme wurde schärfer. „Er soll gedroht haben: ‚Wer vor Ende aller Wahlen den Versammlungsort verlässt, bekommt seine Autoreifen zerstochen.‘ Eine rohe, aber wirkungsvolle Drohung, nicht wahr?“
Ich nickte, fasziniert von der Dreistigkeit dieses Mannes. „Aber Holmes, was trieb ihn dazu, seine eigene Partei später zu verlassen?“
Holmes lächelte schmal. „Das, Ibbson, ist der Kern der Angelegenheit. Nach dem Zusammenbruch des ersten Kreisverbandes der AfD in Steinfurt – ein Debakel, das durch interne Streitigkeiten und Skandale ausgelöst wurde – trat Voss aus der Partei aus. Jahre später, so erzählt man, sprach er sich sogar für ein Verbot der AfD aus. Ein solcher Wandel ist selten ohne tiefere Gründe. Und doch, ein ehemaliger Parteikollege, ein gewisser Friedwart Krüger, verurteilte ihn mit den Worten: ‚In welchem Tempo manche Ex-AfDler degenerieren, ist immer wieder sagenhaft.‘ Ein starkes Wort, Ibbson – ‚degenerieren‘. Es spricht von Verachtung, von einem Gefühl des Verrats. Das verbannende Urteil fällt, kaum dass Voss nicht mehr dazu gehört. Wo Loyalität nicht mehr als ein Fähnlein im Wind ist, lebt der gefährlich, der solidarisch Vertrauen schenkt. Er wird nicht darauf bauen können.“
Holmes lehnte sich zurück, seine Finger trommelten auf die Armlehne. „Wir müssen die Motive dieses Voss untersuchen. War es Reue? Opportunismus? Oder etwas Düstereres?“
Die Reise nach Steinfurt war schnell organisiert. Wir trafen in einer kleinen, mit Fachwerkhäusern bereicherte Stadt ein, deren scheinbare Idylle die dunklen Geheimnisse der politischen Machenschaften verbarg. Unsere erste Anlaufstelle war ein ehemaliges Mitglied der AfD, das bereit war, anonym mit uns zu sprechen. In einem verrauchten Gasthaus, unter dem Flackern einer alten Lampe, erzählte er uns von Voss.
„Heinrich war ein Mann von Leidenschaft“, begann der Informant, dessen Gesicht im Schatten lag. „Er glaubte an die Sache, aber er war auch ein Mann der Macht. Er liebte es, die Fäden zu ziehen. Während der Wahl, von der Sie sprechen, war er wie besessen. Er wollte sicherstellen, dass sein Favorit, ein junger, ehrgeiziger Mann namens Müller, den Vorsitz gewinnt. Die Weitergabe der Zwischenergebnisse war seine Art, die anderen zu beeinflussen – ein schmutziges Spiel.“
„Und die Drohung mit den zerstochenen Reifen?“ fragte ich.
Der Informant lachte bitter. „Typisch Heinrich. Er war nicht zimperlich. Aber nach dem Untergang des Kreisverbandes – ein Chaos aus Intrigen und Misstrauen – schien etwas in ihm zu brechen. Er sprach plötzlich von Fehlern, von einer Partei, die den falschen Weg eingeschlagen habe. Als er dann für ein Verbot der AfD plädierte, war das für viele wie ein Dolchstoß.“
Holmes’ Augen verengten sich. „Und doch, warum dieser Wandel? Was hat ihn dazu getrieben?“
Die Wahrheit, wie Holmes sie später enthüllte, war ebenso komplex wie menschlich. Durch diskrete Nachforschungen – darunter die Analyse von Voss’ alten Briefen und Gesprächen mit ehemaligen Weggefährten – entdeckte Holmes, dass Voss’ Austritt nicht aus Reue, sondern aus Frustration geboren war. Der Zusammenbruch des Kreisverbandes hatte seine Ambitionen zerschlagen, und er fühlte sich von der Partei im Stich gelassen. Sein Plädoyer für ein Verbot war weniger ein Akt der Buße als vielmehr ein Versuch, sich an einer Organisation zu rächen, die ihn nicht mehr brauchte.
„Sehen Sie, Ibbson“, erklärte Holmes, als wir wieder in der Baker Street saßen, „Voss ist kein Mann der Prinzipien, sondern ein Mann des Grolls. Seine Ressentiments gegen Migranten waren einst sein Werkzeug, um Anhänger zu gewinnen. Seine Manipulationen bei der Wahl waren sein Versuch, Kontrolle zu behalten. Und sein Verrat, wie Krüger es nennt, ist nichts weiter als die letzte Waffe eines Mannes, der seine Macht verloren hat.“
Ich schüttelte den Kopf. „Und doch, Holmes, bleibt die Frage: War er jemals wirklich ein Gläubiger der AfD-Ideologie?“
Holmes lächelte, ein Hauch von Melancholie in seinem Blick. „Das, mein lieber Ibbson, ist die Tragödie solcher Männer. Sie glauben an nichts außer sich selbst. Und wenn die Welt ihnen den Rücken kehrt, bleibt ihnen nur der Schatten ihrer eigenen Bitterkeit.“
So endete der Fall von Steinfurt, eine Geschichte von Ehrgeiz, Verrat und der flüchtigen Natur von Loyalität. Holmes legte das Telegramm beiseite und griff nach seiner Violine, während die Dämmerung draußen alle Konturen matt verschwimmen ließ und die Geheimnisse der Welt in der Dunkelheit verschwanden.

